Prof. Klaus Denecke
Eine Fülle von Messdaten und elementare physikalische Einsichten belegen es: die Bedrohung der Menschheit durch den globalen Klimawandel ist längst keine theoretische Möglichkeit mehr, sondern eine Tatsache. Das Hauptziel des Übereinkommens von Paris, die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu senken, kann nur durch eine konsequente Verkehrswende erreicht werden. Die Autoren des Buches ‚Verkehrswende – Ein Manifest‘, erschienen 2020 im Verlag PapyRossa, der Infrastrukturexperte Carl Waßmuth und der Politologe Winfried Wolf, fordern einen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik. Tägliche kilometerlange Staus auf Autobahnen und in Innenstädten, jährlich weltweit 13 Millionen Verkehrstote, Emission von Treibhausgasen, Belastung durch Lärm und Feinstaub führen heute nicht zu mehr Lebensqualität durch das Auto, sondern verringern sie. Der Reduktion von CO₂-Emissionen durch technische Verbesserungen der Motoren steht die ständig wachsende Zahl von Neuzulassungen von Autos gegenüber. Neue Autobahnen, mehr und breitere Spuren konnten die Situation auf den Straßen nicht verbessern. Elektroautos werden die Verkehrsprobleme auch nicht lösen. Sie erhöhen die Verkehrsdichte zusätzlich, da sie wegen der geringen Reichweite oft nur als Zweitauto genutzt werden. Energie- und Rohstoffaufwand bei der Herstellung der Batterien und ihr größeres Gewicht sind weitere Probleme.
Vermeidung von Verkehrswegen
Die Autoren fordern dagegen Verkehrswege zu vermeiden oder wenigstens zu verkürzen. Einkaufszentren und Dienstleistungsbetriebe gehören nicht in die unbewohnten Außenbezirke einer Stadt, sondern dahin, wo die Menschen leben. Kommen die angebotenen Waren aus der Region, so können lange Transportwege verkürzt werden. Die staatliche Förderung der Transportkosten führt im Extremfall dazu, dass Waren den Verbraucher erst erreichen, nachdem sie den Erdball umrundet haben. Kann der Urlaub an Ostsee, Nordsee, den deutschen Mittelgebirgen oder der Mecklenburgischen Seenplatte nicht ebenso schön sein wie der in Khrabi oder auf Phuket? Sogar noch erholsamer wird der Urlaub, wenn das Ziel ganz ohne Stress mit der Deutschen Bahn, dem Bus, auf dem Fahrrad oder nach einer Fußwanderung erreicht werden kann.
Per pedes oder auf dem Fahrrad
Laufen, wandern, schlendern, bummeln, spazieren gehen, rennen, joggen, es gibt viele Verben für die natürlichste Art des Menschen sich fortzubewegen. In der Verkehrsplanung und in der Straßenverkehrsordnung spielen Fußgänger nur eine untergeordnete Rolle. Die Straßen gehören den Autos. Fußgänger haben den Autoverkehr nicht zu stören. Die Stadt, ihre Straßen und Plätze, die historischen Zentren müssen, natürlich nach Corona, wieder den Menschen und ihren Begegnungen dienen, fordern die Autoren. Dann kommt das Fahrrad. Das Radwegenetz, obwohl in einigen Städten und in der Fläche schon vorhanden, könnte verdreifacht werden. Städte wie Münster und Kopenhagen beweisen es. 60 Prozent der Wege in Kopenhagen werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Nicht nur, weil es gesünder ist, sondern vor allem, weil es schneller geht, sagen die Dänen. Für etwas längere Strecken ist das Pedelec eine gute Alternative zum Auto. Vier Millionen Fahrräder mit Elektro-Unterstützung gibt es in Deutschland schon, 2025 werden acht Millionen erwartet.
Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV)
Die Autoren favorisieren die Tram, vor allem, wenn sie mit Öko-Strom betrieben wird. Das Berliner Straßenbahnnetz hatte 1920 eine Länge von 634 Kilometern, heute sind es noch 190, davon 90 Prozent im Osten der Stadt. Die Straßenbahn fährt heute viel leiser als 1920, durch Panoramafenster beobachtet man gelassen, wie sich die Stadt verändert. Das ist von der U-Bahn aus nicht möglich. Der Hauptgrund, nicht die U-Bahn zu bevorzugen, sind für die Autoren die hohen Herstellungskosten. S-Bahn und Regionalbahn müssen ausgebaut und die Taktfrequenz erhöht werden. Den Privatisierungsplänen für die Berliner S-Bahn stehen die Autoren sehr kritisch gegenüber. Sie befürchten, vermutlich zu Recht, das Gemeinwohl würde dann den Gewinnabsichten der privaten Eigentümer geopfert werden. Auch eine weitere Forderung könnte dann nicht umgesetzt werden: der ÖPNV soll für die Benutzer kostenlos sein. „Das ist zu teuer, die Städte können sich das nicht leisten, was nichts kostet, ist nichts wert“, hört man die Kritiker schon rufen. Die Autoren geben vorbeugende Antworten und Argumente.
Die Deutsche Bahn (DB), Flugverkehr und Güterverkehr
Dem leidigen Thema DB räumen die Autoren viel Raum ein. Sie sprechen von der Krise der Bahn, die 1994 mit der Bahnreform, der Vereinigung von DB mit der Deutschen Reichsbahn und der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft begann. Sie führen aus, welche verheerenden Nachwirkungen die Bestrebungen des damaligen Bahnchefs Mehdorn, die DB an die Börse zu bringen hatten: Zerlegung des Unternehmens in Teilbereiche, Einsparung von Wartungskosten, Achsenbrüche am IC, Abbau von Weichen und Knoten, Abbau von Ausweichgleisen, Stilllegung von Streckenabschnitten, Abschaffung des beliebten Interregio und der Nachtzüge, Verkauf und Verwahrlosung von Bahnhöfen, Privatisierung von Regionalbahnen, eine lange Liste schwerer Sünden. Sie unterbreiten Vorschläge, wie die DB in eine dem Gemeinwohl dienende Einrichtung öffentlichen Rechts umgewandelt werden kann, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen muss. Dann kann sie auch Teile des Flugverkehrs und des Güterverkehrs auf den Autobahnen übernehmen, die extrem umweltschädlich sind.
Umsetzung der Verkehrswende
Die vorgestellte Verkehrswende ist ein mutiger Angriff auf das ‚Allerheiligste‘, die Autoindustrie, denn die Anzahl der PKW und LKW soll drastisch reduziert und ein Tempolimit festgesetzt werden. Die Autoren fordern die Konversion der Produktion und, noch weitergehend, die Enteignung der Autokonzerne und ihre öffentliche Kontrolle.